Mohenjo-Daro und Harappa: Städtebau und Wohnkultur im alten Indien

Mohenjo-Daro und Harappa: Städtebau und Wohnkultur im alten Indien
Mohenjo-Daro und Harappa: Städtebau und Wohnkultur im alten Indien
 
Die Geschichte der Stadtwerdung reicht auf dem indischen Subkontinent bis in das 4. Jahrtausend v. Chr. zurück. Am Indus entwickelte sich aus bereits komplexen Dorfkulturen scheinbar sprunghaft um 2500 v. Chr. eine Zivilisation, die entweder nach ihrem ersten Entdeckungsort Harappa-Kultur oder nach dem Fluss, an dem sie angesiedelt war, Indus-Zivilisation genannt wird. Fast gleichzeitig mit der zufälligen Entdeckung Harappas in der Provinz Punjab der heutigen islamischen Republik Pakistan im Nordwesten des indischen Subkontinents ging die Entdeckung einer zweiten großen Stadt einher, Mohenjo Daro(= Hügel der Toten) in der Provinz Sind. Bisher sind mehr als tausend Siedlungen der Indus-Zivilisation bekannt, deren Ausdehnungsgebiet neben dem Tal des Indus und derjenigen seiner Nebenflüsse die Küste Makrans sowie die Halbinsel Kathiawad umfasst. Zur Blütezeit dieser Zivilisation bestanden Handelskontakte per Küstenschifffahrt nach Mesopotamien und den östlichen Küsten der Arabischen Halbinsel, von wo man auch Kupfer bezog.
 
Die größte der bisher bekannten Städte der Indus-Zivilisation war fraglos Mohenjo Daro. 1922 entdeckt, wurde diese riesige Stadt vorwiegend in den späten 20er-Jahren von Archäologen des Britisch-Indischen Antikendienstes ausgegraben. Die Ergebnisse faszinierten schon die damalige Welt: Mit hunderten von Arbeitern legte man bis 1931 mehr als 100 000 m2 Häuser und Straßen frei, eine gewaltige Grabung, die nach und nach das Bild einer hochverdichteten Stadt des 3. Jahrtausends an das Licht des Tages brachte. Trotz intensiver Suche fand man nicht, was aus den anderen frühen Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens so bekannt war und begehrenswert erschien: Tempel, Paläste und reiche Königsgräber. Stattdessen fand man nur hunderte von Wohnhäusern und sehr selten Gold. Auch waren alle Gebäude, die man freilegte, aus dem gleichen Material errichtet, gebrannten Ziegeln in einem Standardformat, sodass in den 30er Jahren ein Archäologe von »monotonen« Städten sprach. In der neueren Geschichtsforschung haben jedoch genau diese Eigenschaften größere Bedeutung gewonnen, da sich die Indus-Zivilisation auf diese Weise stark von den anderen frühen Hochkulturen abhebt. Ausgeprägte Herrschaftszeichen und Kulttraditionen scheinen gefehlt zu haben, offensichtlich gab es eine hohe Wohnkultur in komfortablen Häusern für den »normalen« Bewohner der Städte, einhergehend mit rationalisierten Baumethoden und Materialien wie dem vorfabrizierten gebrannten Ziegel; so lässt diese Zivilisation den Wissenschaftler vermehrt über mögliche politische Formen nachdenken, die von denen der anderen Hochkulturen offenbar abwichen. Leider kann jede kulturelle Interpretation bisher nur indirekt aus dem archäologischen Befund der materiellen Hinterlassenschaften geführt werden. Die Schrift gilt, trotz vieler Vesuche, bisher als noch nicht entziffert. Auch fehlen fast ausschließlich zusätzliche bildliche Zeugnisse, die das Leben dieser Zeit besser illustrieren könnten.
 
Die Stadtgestalt und die Baukunst sind jedoch unmittelbar aus den sehr gut erhaltenen baulichen Überresten Mohenjo Daros ablesbar. Vielen der größeren Städte des Industals scheint eine Regelhaftigkeit der Stadtform gemein zu sein. Während sich wie in Mohenjo Daro, Harappa und auch Kalibangan (im heutigen Bundesstaat Rajasthan der Indischen Union) westlich des Stadtkerns ein erhöhter kleinerer Bereich befindet, schließt sich, getrennt durch einen unbebauten Streifen, östlich ein großer Bereich an, den man allgemein als Wohn- oder Unterstadt bezeichnet. In Anlehnung an militärische Vorbilder hat man den erhöhten Westbereich auch als »Zitadelle« bezeichnet, obwohl dieser Bereich nicht eindeutig als Sitz eines weltlichen Herrschers identifiziert ist, sondern eher ritueller Nutzung gedient zu haben scheint. Sonderformen der Architektur wie etwa das »Große Bad« in Mohenjo Daro oder dessen »Kornspeicher« sowie »Feueraltäre« und Plattformen in Kalibangan zeichnen diese Bereiche aus. In Harappa fand man ausgedehnte Architekturen, von den Ausgräbern als »Kornspeicher« bezeichnet, nördlich der dortigen »Zitadelle« im ungeschützten Umland. Mit der Nutzung konkreter Begriffe wie »Zitadelle« oder »Kornspeicher« wird die Problematik heutiger Wissenschaftspositionen gegenüber älteren Interpretationen deutlich: Solche konkreten Deutungen der Befunde halten kritischer Prüfung nicht immer stand. So sind wir uns nicht mehr sicher, ob in dieser Zivilisation tatsächlich große, zentrale Kornspeicher existiert haben mögen, die bei zentralisierten Wirtschaftsformen, etwa bekannt im alten Ägypten, formaler Ausdruck der staatlichen Wirtschaftsordnung waren. Nach den uns bisher vorliegenden Befunden können die Städte in der Indus-Zivilisation als Planstädte bezeichnet werden. Mohenjo Daro etwa wurde zum Schutz gegen den in unmittelbarer Nähe fließenden Indus auf großen Plattformen errichtet. Die Unterstadt wurde auf 1 200 m Länge von mindestens einer gerade verlaufenden, etwa 10 m breiten Hauptstraße in annähernd nord-südlicher Richtung durchquert, die ost-westlich verlaufenden Straßen und Gassen waren knickachsig. Die ganze Stadt mit mehreren Tausend Häusern war an ein öffentliches Entwässerungsnetz angeschlossen, während das Trinkwasser aus hunderten von Brunnen geschöpft werden konnte.
 
Ein mittelgroßes typisches Wohnhaus in Mohenjo Daro war ein Reihenhaus, das eine Fläche von etwa 130 m2 bedeckte. Von der Straße führte meist knickachsig der Eingang durch einen Vorraum auf einen größeren Innenhof, von dem die anderen Räume direkt zugänglich waren. Bade- und Toilettenräume befanden sich meist an der Straßenseite, in einen Kanal oder Sickerschacht entwässernd. Das Frischwasser kam aus eigenem Brunnen, der bis zu 20 m senkrecht nach unten reichen konnte. Oft führten Ziegelsteintreppen auf die flachen Dächer. Über die Nutzung der einzelnen Räume weiß man bisher wenig, Altäre oder Plätze der kultischen Verehrung fand man auch hier nicht.
 
Neben den sich in vielen Varianten zeigenden Wohnhausformen finden sich auch architektonische Sonderformen. Zu den bekanntesten zählt das »Große Bad« in Mohenjo Daro. Im Nordwesten der »Zitadelle« gelegen, bedeckt diese Anlage annähernd 1 800 m2. In ihrem zentralen Innenhof ist ein 7 x 11 m großes Becken eingesenkt, das an der nördlichen und südlichen Schmalseite von jeweils einer Treppe begehbar ist. Der Innenhof war in früherer Zeit von einer Kolonnade umgeben. Die Wasserzulieferung erfolgte einst über einen großen Brunnen in einem der Räume. Über einen mannshohen, mit einem Kraggewölbe abschließenden Kanal wurde das Becken nach Westen entwässert. Auch wenn eine rituelle Nutzung des Bades nahe liegt, ergaben die Ausgrabungen keinerlei zusätzliche Hinweise auf eine solche Nutzung. Die berühmteste Figur der Industalkultur, der »Priesterkönig«, wurde 1925 fast einen Kilometer entfernt in einem Haus der »Unterstadt« entdeckt. Auch konnten in der Nähe des »Großen Bades« auf der Zitadelle keine außergewöhnlichen Konzentrationen von Siegeln mit Schriftzeichen festgestellt werden, die von einigen Wissenschaftlern als Ritualgegenstände verstanden werden.
 
Während das »Große Bad« innerhalb der Indus-Zivilisation bisher als einmalig gilt, meinte man in verschiedenen Fundorten wie in Mohenjo Daro, Harappa und Lothal »Kornspeicher« gefunden zu haben. Aber auch hier ergaben sich außer der besonderen architektonischen Form keinerlei zusätzliche Hinweise wie Vorratsgefäße oder größere Reste von Getreide, die auf eine solche Nutzung schließen lassen. In Mohenjo Daro befindet sich der »Kornspeicher« unmittelbar westlich des »Großen Bades«, eine große, massive Struktur aus gebranntem Ziegel, an ihrer Oberfläche 27 Plattformen bildend, durch etwa 0,8 m breite und 1 m tiefe Passagen voneinander getrennt. Der britische Archäologe Wheeler hielt diese Struktur für das Fundament eines großen hölzernen Überbaus, der jedoch nie gefunden wurde.
 
Die Baukunst in der Indus-Zivilisation beeindruckt nicht durch hohe Kunstfertigkeit einzelner Kostbarkeiten wie etwa in Ägypten, sie war eher nüchtern und zweckorientiert. Das Außerordentliche liegt für den heutigen Betrachter eher in dem hohen technischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft, die offensichtlich ingenieurmäßig dachte: Sie entwickelte zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit den Ziegel heutigen Formats, ein optimal rationalisiertes und vorgefertigtes Bauelement, das als Einhandziegel mit den Proportionen 1 : 2 : 4 in allen Richtungen beliebig addierbar war. Sie baute ihre planmäßig angelegten Städte auf schützenden Plattformen und hatte bei weitem den höchsten Standard in der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, nicht nur in ihrer Zeit, sondern auch verglichen mit europäischen Verhältnissen noch des 18. oder 19. Jahrhunderts n. Chr. Der Untergang dieser Kultur ist bis heute rätselhaft. Er geschah so umfassend, dass bei den Nachfolgern keinerlei Erinnerung an sie blieb und die Industalkultur 1922 wieder neu entdeckt werden musste.
 
Prof. Dr. Michael Janse und Dr. Alexandra Ardeleanu-Jansen
 
 
Das alte Indien. Geschichte und Kultur des indischen Subkontinents, herausgegeben von Heinrich Gerhard Franz. Mit Beiträgen von Peter Gaeffke u. a. München 1990.
 
Vergessene Städte am Indus. Frühe Kulturen in Pakistan vom 8.—2. Jahrtausend v. Chr. Ausstellung aus Anlaß der Bemühungen der UNESCO und der Islamischen Republik Pakistan zur Rettung Mohenjo-Daros. Aachen, Krönungssaal im Rathaus, 27. Juni —6. September 1987, bearbeitet von Alexandra Ardeleanu-Jansen. Mainz 1987.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Нужна курсовая?

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”